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Oktober 2015
Panoramabild vom Dachsberg auf die Lungenheilstätte Kirchseeon, ca. 1904

Kirchseeoner Geschichte(n): Tuberkulosebehandlung im Lungensanatorium

Die ehemalige Lungenheilstätte Kirchseeon, die sich bis zur Auflösung Mitte der 1960er Jahre auf dem Grundstück des jetzigen Berufsförderungswerks Kirchseeon befand, war 1901 als allgemeines Sanatorium der Ortskrankenkasse München VIII für das Baugewerbe eröffnet worden. Zeitgleich mit der Zwangsfusion der 10 Münchner Ortskrankenkassen zu einer einzigen zentralisierten Ortskrankenkasse für München wurde das Sanatorium 1904 in eine Lungenheilstätte umgewandelt (weil die Volksheilstätte Planegg überbelegt war), in der an Tuberkulose (Tbc) erkrankte männliche Patienten behandelt wurden (tuberkulosekranke Frauen wurden im Sanatorium Schonstett behandelt).

In den 63 Krankenzimmern gab es anfangs nur eine Kerzenbeleuchtung, später wurde auf Acetylenbeleuchtung umgestellt, bevor 1908 eine elektrische Beleuchtung installiert wurde. Die seitliche Liegehalle, 84 m lang, 7 m breit mit Platz für 104 Liegestühle wurde bereits 1904 errichtet.

Im "Verwaltungsbericht der Ortskrankenkasse für München pro 1906" beschreibt der ärztliche Leiter Dr. Vorster die Behandlung und den Aufenthalt der Patienten:
"Das Jahr 1906 war das zweite Betriebsjahr der Anstalt als Lungenheilstätte für männliche Patienten, das fünfte seit ihrem Bestehen. ... Der Betrieb der Anstalt wurde auch im Jahre 1906 dem Charaktere einer Lungenheilstätte entsprechend in unveränderter Weise weitergeführt. Die Behandlung ist demnach die hygienisch-diätetische, wie sie in allen deutschen Lungenheilstätten üblich ist ... Die hygienisch-diätetische Behandlung besteht in Freiluft-Ruhekur, kräftiger Ernährung, bezw. Überernährung, Wasserbehandlung, hygienischer Erziehung und Belehrung ... Um auch den Gemütszustand günstig zu beeinflussen, wurden im Sommer wöchentlich ein- bis zweimal, im Winter alle 14 Tage kleine Ausflüge in die schöne waldreiche Umgebung in Begleitung eines Anstaltsarztes unternommen … Zur anderweitigen Unterhaltung [und] Zerstreuung stehen den Pfleglingen im Spielsaale der Anstalt verschiedene Gesellschaftsspiele zur Verfügung, von denen fleißig Gebrauch gemacht wird. Im Parke bildete den Hauptsport das Kegelspiel, zu dem sich im Winter noch der Eissport gesellte … An den langen Winterabenden wurden außerdem von den Pfleglingen musikalische und deklamatorische Vorträge veranstaltet, wozu jeder nach seinen gesellschaftlichen Talenten beisteuerte..."

Lungenheilstätte Kirchseeon, Anfang des 20. Jahrhunderts

Im Jahr 1906 wurden insgesamt 617 Patienten verpflegt, die meiste Zeit des Jahres hatte das Lungensanatorium zwischen 80 und 100 Patienten; die Vollbelegung wurde nur in den Sommermonaten erreicht. Es kamen Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsstadien in die Lungenheilstätte, vorwiegend aber im Krankheitsstadium II. Der Jahresbericht 1906 führt dazu aus:
"Es befanden sich im
I. Stadium: Erkrankung einer [Lungen]Spitze oder eines kleinen umschriebenen Gebietes: 142 Patienten = 25,5%
II. Stadium: Erkrankung eines ganzen Lungenlappens oder mehrerer umschriebener kleiner Gebiete: 334 Patienten= 59,8%
III. Stadium: Erkrankung eines ganzen Lungenlappens und einer Spitze: 81 Patienten = 14,5%
IV. Stadium: Erkrankung ausgedehnter Gebiete: 1 Patient = 0,2%"


Obwohl damals noch keine Medikamente gegen Mykobakterien, die Erreger der Tuberkulose, bekannt waren, soll die ärztliche Behandlung im Sanatorium dennoch in vielen Fällen erfolgreich gewesen sein.
Der Jahresbericht 1906 führt eine Statistik der Entlassungsbefunde:
"hinsichtlich des Krankheitsprozesses wurden entlassen: als wesentlich gebessert 263 Patienten (47,1%), als gebessert 235 Patienten (42,1%), als ungebessert 44 Patienten (7,9%), als verschlechtert 16 Patienten (2,9%)."

Zweifel an diesem Erfolgsbericht sind angebracht, denn die Diagnostik war noch wenig ausgereift, so dass von vielen Fehleinweisungen und unzutreffenden Entlassungsbefunden auszugehen ist (die Anzahl der infektiösen Tuberkulosekranken unter den Heilstättenpatienten wird nach retrospektiven Untersuchungen auf nur 15% geschätzt [2]). Zudem wurden in die Heilstätten ohnehin nur leicht tuberkulöse Patienten aufgenommen, denn Ziel der Sanatoriumsbehandlung war nicht die Heilung der Patienten, sondern lediglich die rasche Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der meist im "besten Mannesalter" stehenden männlichen Patienten, die auch bei nur geringer Besserung der Krankheit erreicht war. Schwere Fälle wurden ohnehin den Krankenhäusern zugewiesen.

Der Verwaltungsbericht 1908 bestätigt den geringen Anteil an Patienten mit einem positiven Tuberkelbazillenbefund und die (symptomatische) Besserung durch den Sanatoriumsaufenthalt:
"Weder beim Eintritt noch beim Austritt hatten Bazillen: 378 Patienten = 77,94%
Sowohl beim Eintritt wie beim Austritt hatten Bazillen: 41 Patienten = 8,45%
Beim Eintritt, aber nicht mehr beim Austritt hatten Bazillen: 66 Patienten = 13,61%
Im ganzen waren somit Bazillen nachweisbar bei 107 Patienten = 22,06%
Auswurf war vorhanden beim Eintritt bei 454 Patienten = 93,61%
Der Auswurf verschwand während der Kur bei 371 Patienten = 76,50%"


Da sich die hygienischen Verhältnisse in den beengten Wohnungen der ärmlichen Arbeiterbevölkerung häufig nicht besserten, flackerten die Tuberkulose und andere Atemwegserkrankungen nach dem Sanatoriumsaufenthalt oft wieder auf und es kam zu wiederholten Einweisungen. Auch dazu nennt der Jahresbericht 1906 statistische Daten für die insgesamt 617 Patienten dieses Jahres: "zum wiederholten Male wurden verpflegt: 60 Patienten, deren zum zweiten Male: 45 Patienten, deren zum dritten Male: 14 Patienten, deren zum vierten Male: 1 Patient."

Die "Anstalts-Ordnung für die Pfleglinge des Sanatoriums Kirchseeon" aus dem 1907 war ziemlich streng, wurde aber vielfach mißachtet, was regelmäßig zu freiwilligen und unfreiwilligen Entlassungen führte:
"...17, Das Tabakrauchen, Schnupfen, sowie Spiele um Geld ist verboten.
18, Das Verlassen des Anstaltskomplexes ist strengstens verboten.
19, An Sonn- und Feiertagen ist der Kirchenbesuch gestattet. Wird die hiezu gegebene Gelegenheit nicht zu diesem Zweck benützt, sondern werden Wirtschaftslokalitäten besucht, so erfolgt unnachsichtlich Disziplinierung.
...
24, Das Ausspucken auf den Boden, sowohl innerhalb, wie außerhalb der Anstalt, ist aus sanitären Gründen strengstens verboten. Ebenso das Ausspucken in die Taschentücher. Die Patienten haben sich ausschließlich der ihnen von der Anstalt gelieferten Taschenspuckfläschen zu bedienen, die sie stets bei sich zu tragen haben. Bei wiederholter Übertretung dieser Vorschrift ist unachsichtlich die Entlassung aus der Anstalt zu gewärtigen...."


Die über all die Jahrzehnte des Bestehens berichteten und beklagten Disziplinprobleme und Alkoholexzesse werden verständlich, wenn man erfährt, dass es sich bei der Mehrzahl der Patienten um ledige junge Männer handelte (1906 waren über die Hälfte ledig und unter 30 Jahre alt), von denen auch noch ein hoher Anteil zu übermäßigem Alkoholgenuss neigte (1906: 20,9%). Auch Geschlechtskrankheiten waren unter den Patienten der Lungenheilstätte Kirchseeon weit verbreitet (1906: Tripper 4,1%, Syphilis 8,7% der Patienten).

Es verwundert nicht, dass die Kirchseeoner Bevölkerung befürchtete, von den Tbc-Kranken, die sich auch in Geschäften und in den Wirtschaften im Ort aufhielten, angesteckt zu werden. So wurde 1925 vom damaligen Bürgermeister Breiter vergeblich von der Ortskrankenkasse gefordert, den Patienten den Ausgang vollständig zu verbieten. Der damals neu zugezogene Hausarzt Dr. Gregor Ebner (der spätere ärztliche Leiter der NS-Organisation Lebensborn e.V.) unterstützte ihn in einem Schreiben vom 20.4.1925:

"Die auffallende Häufung von Tuberkulosefällen in Kirchseeon-Bahnhof sei durch folgende Zahlen wiedergegeben: es standen und stehen seit meiner 1 1/2 jährigen Tätigkeit als pr. Arzt in Kirchseeon in meiner Behandlung: 14 Fälle von nachgewiesenen tuberkulösen Lungenprozessen, meist progressiven Charakters, darunter 4 Todesfälle, 4 Fälle von Knochentuberkulose, 2 Fälle von Drüsentuberkulose, 2 Fälle von Skrophose [Anm: gemeint ist wohl Skrophulose, eine Hauttuberkulose], 7 Fälle von Verdacht auf Lungentuberkulose (z. Zt. in Beobachtung). Bei der Art der Verbreitung der Tuberkulose ist freilich nicht nachzuweisen, daß die Ansteckung gerade durch Sanatoriumspatienten erfolgt ist. In 4 Fällen von Lungentuberkulose ist jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit die Ansteckung auf den Umgang mit Sanatoriumspatienten zurückzuführen. Die Ansteckungsmöglichkeit besteht vor allem in den Gaststätten, in denen sich die Sanatoriumskranken ... aufhalten, mit Gesunden an einem Tisch zusammensitzen und die gleichen Eß- und Trinkgeräte nutzen. Im Interesse einer erfolgreichen Bekämpfung der Tuberkulose wären einschneidende Maßnahmen zur Beseitigung des bestehenden unhygienischen Verhältnisse dringend wünschenswert."

Ob die Vermutungen von Dr. Ebner zutrafen oder ob nicht vielmehr die ärmlichen, beengten und unhygienischen Verhältnisse, in denen nicht wenige Kirchseeoner Familien mit ihren vielen Kindern leben mussten und die sie sogar zwangen, sich an Patienten des Lungensanatoriums zu wenden, um von diesen trotz Verbots der Sanatoriumsleitung Lebensmittel zu bekommen, ursächlich für die Tbc-Erkrankungen waren, sei dahingestellt. Die Tuberkulose blieb gleichwohl noch viele Jahre eine der Haupttodesursachen in der armen Arbeiterbevölkerung und die Kirchseeoner Bürger hatten noch lange Angst vor Ansteckung: so beschäftigte noch 1959 ein Plakat in einem Kirchseeoner Cafe, mit dem der Inhaber Tbc-Kranken den Zugang zu seinem Lokal untersagte, das Landratsamt [3].

Quellen:
[1] StA München, Ortskrankenkasse München, RA4002-60244 und RA4002-60245
[2] Andreas Schmitt, "Leuchten wir mal hinein...", Das Waldhaus Charlottenburg im Sommerfeld/Osthavelland 1905-1945, Ein Stück Berliner Tuberkulosemedizin, Diss. FU Berlin, 1999, http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000001516
[3] StA München, Das Sanatorium Kirchseeon, BezA/LRA 229161

Weitere Informationen:
Auszüge aus den AOK/LVA-Verwaltungsberichte mit Berichten über die Lungenheilstätte Kirchseeon


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