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Mai 2023

Lokalzeitungen – einst und jetzt (Teil 2)

Im ersten Teil dieser Beitragsreihe wurde ein Rückblick auf die ersten rund 100 Jahre Zeitungsgeschichte im Landkreis Ebersberg geworfen: Gründung des "Ebersberger Anzeigers" (in den 1920er Jahren in "Der Oberbayer" umbenannt) durch den Rosenheimer Buchdrucker Franz Xaver Schmitt im Jahr 1881, Zensur durch die "Preßpolizei", Konkurrenz durch die "Grafinger Zeitung" ab 1923, Gleichschaltung der Landkreispresse ab 1933, nach 1945 Wiederbeginn nach Lizenzerteilung durch die US-Militärverwaltung, ab den 1970er Jahren das Entstehen kostenloser Anzeigenblätter.

Ab den 1980er Jahren trat dann als Herausgeber von Periodika ein Akteur auf, den das Grundgesetz aufgrund der leidvollen Erfahrungen in der "braunen Zeit" durch eine unabhängige Druckerpresse kontrolliert sehen wollte, der diese aber nicht selbst bedienen sollte: der Staat, diesmal in Gestalt der Gemeinden. Doch Verfassungsrecht interessierte scheinbar nicht, als im Bürger-Arbeitskreis "Lebendiges Vaterstetten" der Wunsch nach mehr Information durch die Kommune artikuliert wurde und die Gemeinde sich 1985 entschied, eine gleichnamige Zeitschrift herauszugeben. Andere Gemeinden folgten: ab 1988 druckte die Kreisstadt das "Ebersberger Stadtmagazin", kurz darauf entstand "Kirchseeon aktuell" und 1996 folgte "Grafing Aktuell". Heute gibt – nicht nur in unserem Landkreis - fast jede Landkreisgemeinde ihr eigenes Gemeindeblatt heraus, oft unterstützt durch einige, teils bundesweit agierende Verlage, die sich dieses für sie lukrative und risikoarme Geschäftsfeld erschlossen haben.

Privatwirtschaftlich betriebene Zeitungen, Zeitschriften und Anzeigenblätter müssen ihre Inhalte nach dem Leserinteresse ausrichten, denn ansonsten werden sie nicht gekauft, das Abo gekündigt oder landen ungelesen beim Altpapier – und am Ende droht der Konkurs. Bei Gemeindeblättern bestimmen hingegen allein die Bürgermeister, was drin steht, – und das sind keineswegs nur "objektive" Artikel – und die erheblichen Defizite werden vom Gemeindesteuerzahler beglichen.

Ein solches "Geschäftsmodell" scheint nur Wachstum zu kennen: "Lebendiges Vaterstetten" begann 1985 mit 16 Seiten (heute sind es ca. 48), "Kirchseeon aktuell" hatte Anfang der 1990er Jahre nur 8 Seiten (heute ca. 48), "Grafing Aktuell" bestand 2007 aus nur 8 Seiten (heute ca. 36) und das "Ebersberger Stadtmagazin" hatte 2006 nur 12 Seiten, heute sind es regelmäßig 36. Bemerkenswert: nach den Wahlen 2020 wuchs der Seitenumfang in denjenigen Gemeinden, in denen ein Bürgermeisterwechsel erfolgte (Vaterstetten, Kirchseeon, Ebersberg und Grafing), binnen kurzem um rund 50%!

Doch hat diese enorme Ausweitung der Gemeindeblätter Auswirkungen auf die privatwirtschaftlichen Printmedien im Landkreis, insbesondere die beiden Tageszeitungen?

Ein Blick auf die Entwicklung der offiziell bestätigten täglichen Verkaufszahlen der Ebersberger SZ (Süddeutsche Zeitung) und der Ebersberger Zeitung (Münchner Merkur/MM) seit den 1960er Jahren (siehe Abbildung) zeigt: trotz stetig wachsender Landkreisbevölkerung kämpfen die Lokalzeitungen seit der Jahrtausendwende mit Reichweitenverlusten, just ab der Zeit, ab der die Gemeindeblätter expandierten und noch vor der breiten Verfügbarkeit des Internets.

Besonders fällt auf, dass die Lokalausgabe der SZ sowohl absolut wie prozentual stärker verloren hat als die des MM. Die Folgen sind für jeden SZ-Leser deutlich sichtbar: der früher umfangreiche Ebersberger Lokalteil wurde immer mehr reduziert und existiert heute faktisch nicht mehr. Der SZ-Redaktion in Ebersberg und deren fast 50-jähriger Lokalberichterstattung droht ein Teufelskreis: immer weniger Lokalnachrichten, daraus resultierende geringere Kaufanreize, wirtschaftliche Einbußen, Einsparungen beim Personal und weitere Reduzierung der Lokalberichterstattung.

Eine gleichlaufende Entwicklung im gesamten Großraum München konnte die Leitung der SZ auch durch Kosteneinsparungen, u.a. durch mehr E-Paper-Abos, bislang nicht aufhalten. Eigentümerwechsel, Stellenabbau und die Abwanderung von begabten Journalisten zur Konkurrenz machen derzeit keine Hoffnung auf Besserung.

Leider veröffentlichen weder die SZ noch der MM die Ergebnisse ihrer Nachbefragungen ehemaliger Abonnenten nach deren Kündigungsgründen. Daher erfahren wir weder, weshalb vor allem ehemalige Leser der Lokalausgabe der SZ kein angemessenes Verhältnis zwischen Kaufpreis und Informationswert mehr sahen, noch wie viele sich durch die kostenlos verteilten Gemeindeblätter sowie "das Internet" ausreichend informiert sehen und sich die Ausgaben für eine kostenpflichtige Zeitung sparen wollten.

Der Auflagenverlust der Tageszeitungen und seit Kurzem auch die wirtschaftlichen Probleme der Anzeigenblätter betreffen nicht nur den Landkreis, sondern sind ein bundesweites Thema. Viele Zeitungsverlage sehen sich einem unlauteren Wettbewerb mit den Gemeindeblättern, aber auch mit kommunalen Internetplattformen ausgesetzt und klagen immer häufiger gegen deren Herausgeber, die Städte und Gemeinden.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat erstmals 2018 mit Berufung auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz der "Staatsferne der Presse" den Kommunen klare inhaltliche und gestalterische Grenzen für ihre Gemeindeblätter gesetzt (Südwest-Presse gegen Crailsheimer Stadtblatt). Das OLG Nürnberg sah 2019 diesen Grundsatz durch das "Veitsbronner Gemeindeblatt" verletzt. Und SZ, MM, tz und Abendzeitung konnten sich 2021 vor dem OLG München gegen das Stadtportal "muenchen.de" durchsetzen, weil dieses unzulässige presseähnliche Inhalte sowie zu viel Werbung enthielt. Die Revision ist vor dem BGH anhängig, im Fall "dortmund.de" läuft eine Verfassungsbeschwerde des Verlags.

Die Gemeindeblätter im Landkreis überschreiten fast durchwegs weit die vom BGH gesetzten Grenzen, doch Bürgermeister und Gemeinderäte kümmert das nicht: die Versuchung für sie, über die Gemeindeblätter die öffentliche Meinung in ihrer Gemeinde steuern zu können, scheint stärker zu sein.

Darüber mehr im dritten und letzten Teil.


Dieser Artikel ist eine erweiterte Fassung der in der Zeitschrift "Der Oberbayer", Heft Mai 2023, erschienenen Printversion. Artikel mit lokalem Bezug aus dieser Zeitschrift werden mit ein paar Wochen Verzögerung an dieser Stelle abgedruckt. Den Beitrag in der aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Seite http://www.kirchseeon-intern.de/der-oberbayer.htm oder auf "Der Oberbayer"




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