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Juli 2022


Altlasten des Schwellenwerks – Teil 1

25 Tonnen Quecksilber. Nach einer Abschätzung der Fa. Geodata, die die laufende Reinigung des Grundwassers aus dem ehemaligen Schwellenwerk in Kirchseeon gutachterlich begleitet, soll sich diese Menge an verschiedenen Quecksilberverbindungen allein in dem "hot spot" unterhalb des abgebildeten asphaltierten "Deckels" befinden. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Hinterlassenschaften der dort fast 90 Jahre lang betriebenen Schwellenimprägnierung.

Die Aktivitäten des ehemaligen Schwellenwerks der Königlich-Bayerischen Staatseisenbahn, später der Deutschen Reichsbahn und schließlich der Deutschen Bundesbahn seit dessen Gründung am 1. Oktober 1868 bis zur Stilllegung in den 1950er Jahren sind trotz vieler Bemühungen bisher nur lückenhaft durch Dokumente belegt. Weder gibt es vollständige Beschreibungen über Art und Umfang der in den 90 Jahren des Bestehens praktizierten Imprägnierverfahren, noch über die verarbeiteten Mengen an Holz und Chemikalien oder über Details der Produktionsanlagen und die Betriebsweise. Zwar konnte man oft aus Lage und Art bestimmter Schadstoffe im Boden und Grundwasser auf bestimmte Produktionsverfahren schließen. Doch die vorhandenen Wissenslücken ebnen Halbwahrheiten und der Legendenbildung weiterhin den Weg.

Im ersten Teil dieses Beitrags zu den Altlasten des Schwellenwerks werden daher bekannte und neue Erkenntnisse zur Schwellenimprägnierung in Kirchseeon zusammengefasst. In der nächsten Folge werden die bereits erfolgten und noch erforderlichen Sanierungen betrachtet. Schließlich wird auch ein Blick auf die vom jetzigen Grundeigentümer und "Investor" bereits an anderen Altlastenstandorten in Deutschland durchgeführten Sanierungen geworfen.

In technischen Fachbüchern aus den 1870/80er Jahren findet man neben detaillierten Lage- und Bauplänen des Kirchseeoner Schwellenwerks auch ausführliche Beschreibungen der beiden damals eingesetzten Imprägniermethoden.



Bei der sog. Kyanisierung (benannt nach dem Engländer Kyan) wurden die Schwellen jeweils 8-9 Tage lang in 16 Becken mit Quecksilberchloridlösung (auch als Sublimat bezeichnet) eingetaucht. Täglich wurden 2 Becken geleert mit je ca. 150 Schwellen und wieder befüllt, so dass die Tagesproduktion rund 300 Schwellen betrug. Die Giftigkeit der eingesetzten Chemikalien war damals sehr wohl bekannt. Ein aufgetretener Vergiftungsfall mit nachfolgender Arbeitsunfähigkeit eines Arbeiters war 1889/1890 Gegenstand einer – abgewiesenen - gerichtlichen Klage auf Schadenersatz gegen die Bayerische Staatseisenbahn. Das oberflächliche Abspülen der aus den Tauchbecken entnommenen Schwellen vor dem Verladen auf Waggons konnte offenbar nicht verhindern, dass Arbeiter sich schleichend mit Quecksilber vergifteten.

Die Haltbarmachung mit Kreosotöl (ein Bestandteil von Steinkohlenteer) war das andere damals eingesetzte Imprägnierverfahren. Die in einem Ofen vorgetrockneten Schwellen wurden auf Waggons in den Druckkessel (1,8 m Durchmesser, 4 Waggons hintereinander) geschoben. Nach dem Abpumpen der Luft bis auf 1/4 bar wurde das Öl mit einem Druck von bis zu 9 bar in den Kessel eingepresst und nach ein paar Stunden Einwirkzeit wieder abgelassen (sog. Bethell-Verfahren). Pro Tag waren 4 Chargen möglich.

Um 1880 konnten so täglich rund 300 Stück kyanisierte und 5-600 Stück kreosotierte Schwellen produziert werden, pro Jahr also rund 270.000 Stück. Der Bedarf der Bayerischen Staatseisenbahn von rund 240.000 Schwellen pro Jahr konnte damit allein von Kirchseeon aus gedeckt werden. In einer Publikation aus 1883 wird die Produktionskapazität gar mit 500.000 Schwellen pro Jahr angegeben. Das Schwellenwerk in Kirchseeon war das größte in Deutschland, es konnte 10% aller in Deutschland benötigten Schwellen produzieren. Das andere Schwellenwerk der Bayerischen Staatseisenbahn in Schwandorf war deutlich kleiner.

Die benötigten Holzstämme stammten anfangs zu einem großen Teil aus der Umgebung. Denn im Königlich-Bayerischen Kreisamtsblatt für Oberbayern wird 1876 berichtet, dass im Bezirk Ebersberg die Nachfrage des Schwellenwerks viele Privatwaldbesitzer "in außerordentlicher Weise zum Abholzen veranlaßt hat". Später musste das Schwellenwerk die benötigten Holzmengen und -qualitäten aus größerer Entfernung heranschaffen, zuletzt auch aus Österreich.

In eine Schwelle sollen sich 125 Gramm Sublimat bzw. 12 kg Kreosotöl eingelagert haben. Der Jahresbedarf des Schwellenwerks betrug demnach in den 1870er Jahren etwa 11 Tonnen Sublimat und immense 2000 Tonnen Kreosotöl, letzteres war in einem "gemauerten Tiefreservoir" gelagert. Aus Kostengründen wurde das Imprägnieren mit Kreosotöl schon nach wenigen Jahren zugunsten des Burnett-Verfahrens, einer Druckimprägnierung mit wässriger Zinkchloridlösung, wieder aufgegeben. Die Imprägnierung mit Sublimat und Zinkchlorid wurde bis nach 1900 praktiziert, wobei nach den "Berichten über den Betrieb der Königlich-Bayerischen Verkehrs-Anstalten" das Zinkchlorid das Sublimat bereits in den 1880er und 1890er Jahren immer mehr zurückgedrängt hat.

Daran konnte auch der Versuch des damaligen Betriebsleiters Joseph Bleibinhaus, dem später wegen seiner Verdienste um den Bau der katholischen Kirche in Kirchseeon sowohl vom Papst das Ritterkreuz des päpstlichen St. Gregorius-Ordens verliehen wie von der Gemeinde Eglharting die Ehrenbürgerwürde zuteil wurde, nichts ändern, um 1899 die Imprägnierung nach dem sog. Hasselmann-Verfahren einzuführen, benannt nach einem österreichischen Architekten. In einem Druckkessel wurden die Schwellen bei 100 bis 140 Grad und 1-3 bar Überdruck in einer wässrigen Lösung von Aluminium-, Eisen- und Kupfersulfat gekocht. Das Verfahren konnte sich aber nicht durchsetzen.

Ab etwa 1902 entstand eine weitere Imprägnieranlage, die sog. "Nördliche Tränke", nördlich des Bahnhofsgebäudes, etwa zwischen den heutigen Gebäuden der Kreissparkasse und der Raiffeisenbank gelegen.


Dort und in der "Südlichen Tränke" wurde bereits wenige Jahre nach der zeitgleichen Entwicklung des rohstoffsparenden Rüping-Verfahren im Jahr 1906 die Druckimprägnierung mit Steinkohlenteeröl aufgenommen und bis zur Betriebsstilllegung fortgeführt. Die zuletzt aus Beton bestehenden Becken der Kyanisieranlage, die zur Arbeitserleichterung 1,5 Meter tief im Boden versenkt waren, sollen 1915-1920 abgerissen worden sein.

Die eingesetzten Chemikalien haben ihre Spuren in Boden und Grundwasser hinterlassen. Die Schwermetalle Quecksilber, Zink und Kupfer und die Teeröle mit den krebserregenden polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) finden sich in hohen Konzentrationen im Bereich der ehemaligen Produktionsanlagen. Während im Westteil des Schwellenwerks die angelieferten Hölzer und Rohschwellen lagerten, waren im Ostteil die imprägnierten Schwellen zum Abtransport zwischengelagert. Daher findet man im Ostteil als Folge von Auswaschungen und Tropfverlusten eine ausgedehnte Bodenkontamination, die jedenfalls so stark ist, dass kaum Vegetation hochkommt.

Und da die "Schwellen-Imprägnir- und Kreosotir-Anstalt" Kirchseeon der Hauptlieferant der Schwellen für die Königlich-Bayerische Staatseisenbahn war, finden sich die Schwermetalle und PAKs aus der Verwitterung der eingebauten Schwellen auch dort, wo sie kaum einer vermutet: im Untergrund der Gleise fast aller bayerischen Eisenbahnstrecken.


Dieser Artikel ist eine fortgeschriebene Fassung der in der Zeitschrift "Der Oberbayer", Heft Juli 2022, erschienenen Erstversion. Artikel mit lokalem Bezug aus dieser Zeitschrift werden mit ein paar Wochen Verzögerung an dieser Stelle abgedruckt. Den Beitrag in der aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Seite http://www.kirchseeon-intern.de/der-oberbayer.htm oder auf "Der Oberbayer"

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