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Mai 2022


Als die Nonne kam

In allen großen Bibliotheken des deutschen Sprachraums, wie der Bayerischen Staatsbibliothek in München oder der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, wird die Digitalisierung der Bestände energisch vorangetrieben; die Ergebnisse werden auf Internet-Plattformen allgemein zugänglich gemacht. Für die lokale Geschichtsforschung eröffnet sich dadurch über die lokalen und regionalen Archive hinaus eine Quelle, die bisher entweder gar nicht oder nur unter sehr hohem Aufwand zugänglich war.

Über Ereignisse in unserem Landkreis, die überregional für Aufmerksamkeit sorgten, wurde in vielen Zeitungen und Zeitschriften außerhalb Bayerns berichtet, so auch über die massenhafte Vermehrung des Nonnenspinners im Ebersberger Forst, der zum "Wappentier" der Gemeinde Kirchseeon wurde, obwohl er nichts mit dem Entstehen der Gemeinde zu tun hat. In einer – hier verkürzt wiedergegebenen - Leserzuschrift im "Linzer Volksblatt" vom 19. August 1891 wird die damalige Katastrophe anschaulich geschildert:

"[…] Wir fuhren am 12. August über Rosenheim nach Grafing und giengen von dort nach Ebersberg, konnten aber bis dahin keine Nonnen entdecken. Erst als wir den nördlich von Ebersberg gelegenen neuerbauten Aussichtsthurm [Anm.: 1873 war der hölzerne Vorgänger des jetzigen Stahlbeton-Turms errichtet worden] betraten, welcher in einem von Buchen, Föhren und Fichten gemischten Bestand steht, fanden wir sämmtliche Fichten roth, mit nur wenigen grünen Zweigen, die Buchen in den oberen Partien halb abgefressen, während an den Föhren nichts zu erkennen war. Die Bäume (40-50jährig) waren alle mit einem Leimring versehen, von welchem noch die Gespinnste der abgestorbenen Raupen herabhiengen. Es wurde der Leim – eine theerartig riechende schwarzbraune Masse – von der Regierung den Privaten beigestellt und mit einer Wurstspritzen ähnlichen Maschine in einem 2-3 mm dicken, 3 cm breiten Bande auf den vorher von der Borke befreiten (gerötheten) Baumstamm in Brusthöhe aufgetragen. Die Gutsverwaltung Ebersberg hat auf diese Weise allein 150 Zentner Leim verstrichen.

In Parcellen nebenan war wieder gar nichts geleimt und trotz dem besten Willen konnten wir keinen Unterschied im Fraße, an Buchen wie an Fichten, zwischen den "geleimten" und "ungeleimten" Waldungen wahrnehmen. Obwohl "alles schwarz" von Nonnenraupen war zur Fraßzeit, konnten wir nur sehr wenig Puppen (alle ausgehöhlt) und nur vereinzelte Falter – nur Männchen – finden.

Vom Aussichtsthurme aus bot sich gegen Süden das ganze Oberbayern zu Füßen liegend und die Alpenkette von Salzburg bis zum Bodensee überragen von der Großvenediger-Gruppe und den Zillerthaler Fernern, gegen Norden aber das erschreckende Bild eines Leichenfeldes; der größte Theil des großen Ebersberger Parkes gefällt, soweit das Auge reicht, Holzstoß an Holzstoß, Stamm an Stamm ohne Unterbrechung, in der Ferne umgrenzt von mehr oder minder röthlich aussehenden Beständen - Der Ebersberger "Park" ist eine große Ebene, rings von bewaldeten Hügeln umgeben; (nördlich daran grenzt das Schlachtfeld von Hohenlinden). Der ganze königliche Forst ist ein umfriedeter Wildpark – daher der Name mit Hirschen und Sauen bevölkert und nur mit ein paar Forsthäusern (St. Hubertus, Diana u.s.w.) besetzt. Jetzt blinken überall die rothen Ziegeldächer der Cantinen und Baracken heraus. Es arbeiteten vom 24. Juli 1890 an circa 5000 Holzarbeiter an der Fällung dieses fast überall 80-100jährigen Bestandes.

Mitten durch zieht eine Locomotivbahn, auf welcher täglich zwei Locomotive über 150 Waggons Holz nach Kirchseeon schleppen. Auf einem musterhaft angelegten System vom kleinen Waldbahnen schleppen Pferde die Stämme – das Schnittholz wird alles lang verführt – das 2 m lange "Papierholz" und "Grubenholz", sowie die Scheiter zu den Verladestellen, wo es theils mit Handkrahnen, größtentheils mit dem Dampfkrahn verladen wird. Dank dieser großartigen Anlagen konnte die Forstverwaltung diese ungeheueren Holzmassen ohne besondere Verluste verwerten. Im Durchschnitt 80 Percent von der früheren Taxe. Denn das Holz geht theils über Rosenheim nach Italien, meist aber nach Westen: Heilbronn, an den Rhein, nach Elsaß u.s.w. Eine Dampfsäge arbeitet im Forst, einige in der nächsten Umgebung.

Diese rationelle Abfuhr im großen, sowie der Umstand, daß alle anderen Staatsforste ihren Holzschlag reducierten, machten die Preiserhaltung möglich.

In den Ebersberger Waldungen wäre die Nonnengefahr vorläufig als erloschen zu betrachten, da heuer kein Falterflug, also im kommenden Jahre kein Raupenfrass sein dürfte; anders jedoch in den südlich und westlich gelegenen Forsten, wohin sie im Vorjahre eingewandert sind. Es sind dies die ausgedehnten Heenkirchner-, Perlacher- und Sauerlacher-Forste, die großen Staatswaldungen an der Isar und gegen den Starnberger-See, der Forstenriederpark u.s.w. [...]

Im Ebersberger-Park hat die Holzfällerei ein Ende. Alle Arbeiter sind nach Sauerlach dirigiert und dort beginnt die Massenfällung. Von allen Seiten strömen neue Arbeiter aus allen Gegenden Bayerns zu; Tiroler und Böhmen und zahlreiche Italiener fällen dort ununterbrochen die verheerten Waldungen.

Es scheint, dass die Forstverwaltung die Hoffnung auf das Wiederaustreiben beschädigter Bäume aufgegeben hat, denn im Sauerlacher-Forste wurde den Arbeitern aufgetragen, alle Bäume welche mehr als die Hälfte abgefressen sind, ohne Ausnahme zu fällen, so daß noch ziemlich frische Bestände zum Abtrieb kommen. Aber alles wimmelt von Faltern, die jungen dichten Bestände sowohl als wie alte Lichttriebe, Jungmais, wie alte hohe "geleimte" Bestände, überall sitzen sie zu Dutzenden. Von jedem Baume, der fällt, fliegt eine weiße Wolke ab. Ganz München ist besetzt, jeder Baum der Anlagen, die Pappeln der Reichsstraßen, die Telegraphenstangen der Bahnen, jeder Gascandelaber, die Häusermauern bei elektrischem Lichte wimmeln besonders des Nachts von Faltern.

Weite Bezirke sind heuer neu überschwemmt, aber die Weiterverbreitung geschah nach Südwest, weniger gegen Osten […] In der von uns bereisten Gegend fanden wir die Falter bis an den Fuß der Alpen vorgerückt, wo die bayerische Hochebene schon gegen 6-700 Meter hoch liegt, das Korn anfangs (13.) August noch steht, Winterweizen sehr wenig gebaut wird, der Hafer noch grün ist.

In Tölz an der Isar kamen die "Nonnen" in der Nacht vom Samstag auf Sonntag (8. bis 9. August) massenhaft an, weiter fanden wir die äußersten Vorposten in Gmund am Tegernsee, Miesbach, Aibling an der Rosenheimer Bahn.

Meiner Ansicht nach kann durch menschliche Mittel wenig dagegen angekämpft werden. Wenn Gott nicht hilft, so greift diese Pest immer weiter fort. Den Eiern hat der so strenge Winter nichts gemacht. Starke Spätfröste Ende Mai, Juni könnten am ersten die Raupen vernichten oder auftretende Seuchen unter ihnen […} Das schrecklichste dabei ist, daß selbst ganz junge Maisse, ja Pflanzungen total vernichtet werden, also Gegenden auf 50 bis 60 Jahre ganz holzleer gemacht werden. Die Folgen kann sich jeder selbst ausdenken, wie so ein Land vernichtet wird!"


Dieser Artikel ist eine fortgeschriebene Fassung der in der Zeitschrift "Der Oberbayer", Heft Mai 2022, erschienenen Erstversion. Artikel mit lokalem Bezug aus dieser Zeitschrift werden mit ein paar Wochen Verzögerung an dieser Stelle abgedruckt. Den Beitrag in der aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Seite http://www.kirchseeon-intern.de/der-oberbayer.htm

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